Welche Rolle spielen Sie

Vielleicht denken Sie, diese Frage hat nichts mit mir zu tun. Ich habe noch nie Theater gespielt und gedenke es auch in Zukunft nicht zu tun. Die Frage zielt aber nicht auf eine Theaterrolle, sondern auf die Lebensrollen, die wir im Alltag spielen. Vielleicht sind es Rollen, die zu uns passen, die wir gewählt haben und gerne spielen. Vielleicht sind es uns zugedachte Rollen, die uns Mühe bereiten. Bezüglich der Rollen von Pfarrpersonen wurde unlängst in einer Tageszeitung die Meinung des Beauftragten für kirchliche Angelegenheiten, Hansruedi Spichiger, so dargestellt: Pfarrpersonen seien öffentliche Personen, die mit vielen Projektionen leben müssten. Würden sie diese nicht erfüllen, könne das zum Teil "die Volksseele in Bewegung bringen".



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Silvino Alves da Silva Neto schreibt in seinem Büchlein "Der Eremit" folgende bemerkenswerte Worte zum Umgang mit den Lebensrollen: "Wenn du dich richtig kennen lernen willst, musst du dich - zumindest vorübergehend - von den anderen entfernen, zurückziehen vom Zuviel der Menschen. Auf der Bühne des Lebens zwingen dich die anderen Darsteller zu spielen, was deine Rolle verlangt. Erst in der Garderobe kannst du zu dem werden, der du wirklich bist."

Nach 12 Jahren Pfarramtstätigkeit erhielt ich im zweiten Halbjahr 2008 Gelegenheit, einen sechsmonatigen Studienurlaub zu beziehen. Der Studienurlaub bot nicht nur Freiraum für thematisch definierte Studien, sondern er bot mir diese Garderobe, die es möglich macht, Rollen abzulegen und dem näher zu kommen, was auch hinter den Rollen, die wir im Berufs- und Familienalltag spielen, noch gültig ist.

Schon in der Planungsphase konnte ich zwei Einsichten vertiefen, die einen freieren Umgang mit Lebensrollen eröffnen. Jede Lebensrolle kann auch durch andere Darsteller gespielt werden. Zudem wurde auch offensichtlich, dass bestimmte Rollen, wenigstens vorübergehend, ersatzlos gestrichen werden können. Die 80%-Pfarrstelle wurde für das Studienhalbjahr auf ein 40%-Pensum reduziert. Dies sollte ich in meiner zukünftigen beruflichen Tätigkeit immer dann vergegenwärtigen, wenn ich aus einem Pflichtgefühl heraus dazu neige, alle Rollenerwartungen erfüllen zu wollen und Überstunden zu machen.

Der Studienurlaub bot dann Gelegenheit, ein halbes Jahr ohne Agenda auszukommen, die Lebenszeit nicht zum Voraus (ver)planen zu müssen, sondern die Tage gemäss der inneren Kraft und Motivation von Augenblick zu Augenblick gestalten zu können. Am Studienort, wo mich fast niemand kannte, kam es öfters zu spontanen Begegnungen, die noch nicht durch Rollenerwartungen geprägt sind. Der Freiraum, den ich im Studienurlaub hatte, bot auch die Möglichkeit, andere Rollen auszuprobieren. Beispielsweise entdeckte ich wieder neu, dass mir Tätigkeiten wie Einkaufen, Kochen, Putzen und Waschen durchaus gefallen können, wenn ich diese aus einer Ruhe heraus angehen kann.

Selbstverständlich sind es nicht nur Pfarrpersonen, die bestimmte Erwartungen wecken und diese je nachdem mehr oder weniger gut erfüllen können. Alle Menschen spielen bestimmte Rollen und brauchen ab und zu eine Garderobe, in der sie wieder zu sich selber kommen können. Im vergangenen schneereichen Winter werden dies auch die Wegmeister besonders zu spüren bekommen haben. Auch in den Evangelien sind Rollenerwartungen einerseits und andererseits die Möglichkeit zu Gott, zu sich und seinem Eigenen zu finden Thema. Verschiedentlich hat Jesus die Erwartungen, die andere an ihn hatten, nicht erfüllt. Er hat sich zwar nicht in die Garderobe zurückgezogen. Aber in der Stille, im Gebet konnte er sich auf jene Rollen besinnen, die ihm Gott, der Vater, zugedacht hatte. "In Scharen drängten sich die Leute zu Jesus. Sie wollten ihn hören und von ihren Krankheiten geheilt werden. Aber Jesus entzog sich der Menge, um in der Einsamkeit zu beten." (Lukas 5.15,16) "Petrus und die anderen suchten ihn. Als sie ihn gefunden hatten, sagten sie vorwurfsvoll: "Alle Leute fragen nach dir!" (Markus 1.36) Nach einem der Speisewunder "merkte Jesus, dass sie ihn jetzt unbedingt festhalten und zu ihrem König ausrufen wollten. Deshalb zog er sich in die Berge zurück; er ganz allein." (Johannes 6.15) An einer Hochzeitsfeier ging der Wein aus und Jesus' Mutter wollte, dass er handle und die gute Stimmung rette. Doch Jesus antwortete ihr: "Schreib mir nicht vor, was ich zu tun habe! Meine Zeit ist noch nicht gekommen!" (Johannes 2.4) Offensichtlich gelang es Jesus, sich nicht durch äussere Erwartungen von seinem Weg abringen zu lassen. So konnte er zur rechten Zeit mit grosser innerer Kraft auftreten und handeln.

Wie gehen Sie mit Rollenerwartungen um? Welche Rollen spielen Sie? Sind sie ein liebevoller Grossvater, ein patenter Hausmann, hilfsbereiter Nachbar, begabter Handwerker? Sind Sie eine fürsorgliche Mutter, eine strenge Lehrerin, eine erfolgreiche Geschäftsfrau oder zärtliche Freundin? Spielen Sie Ihre eigenen Rollen oder spielen Sie Rollen, die andere von Ihnen erwarten? Spielen Sie Ihre Rollen gerne? Möchten Sie andere, neue Rollen ausprobieren? Sollte vielleicht eine Rolle ein wenig umgeschrieben werden? Wer sind Sie, wenn Sie in der Garderobe Ihre Kostüme und Hüte und Masken ablegen? Können Sie sich überhaupt Zeit nehmen, sich in die Garderobe zurückzuziehen? Wie sieht Ihre Garderobe aus? Ist es ein Abend allein zu Hause, ein Spaziergang in der Natur, der Besuch eines Gottesdienstes, eine Begegnung mit einer guten Freundin, einem vertrauten Freund, ein stilles Gebet am Morgen, ein Abendschwimmen im Thunersee. Wie reagieren Sie, wenn Menschen in ihrem Umfeld plötzlich nicht mehr die gewohnte Rolle spielen? Können Sie das akzeptieren?

Das wünsche ich Ihnen und auch mir, dass wir in der Stille immer wieder neu zum Wesentlichen kommen und so die eigene Rolle auf der Lebensbühne glaubwürdig spielen können. Hans Schneider

Artikel, wie er 2009 in reformiert. erschienen ist als PDF-Dokument